steilberghoch

Ultracycling und Alpenpaesse

Alpenbrevet 2013, das Rennen

Kurz vor vier Uhr morgens wache ich auf. Auch wenn ich dankbar bin für die warnenden Kommentare im Blog und die entsprechenden Emails meiner Eltern, es steht für mich außer Frage, dass ich fahre. Und wenn ich mich auf allen Vieren zum Start schleppen muss.

Dumm ist, dass es die übliche Schwankung der Körperparameter gibt, nur leider heute in die negative Richtung. Ruhepuls 58! Immerhin fünf Stunden Schlaf und kein Fieber, nur minimal erhöhte Temperatur. SpO2 niedrig aber im grünen Bereich. Dann meldet sich aber schon der nervige Durchfall. Tendenz geht eindeutig in Richtung Silber, zehn bis 12 Stunden ohne Toilette, unvorstellbar.
Ich frühstücke relativ normal, esse noch etwas frisches Obst, so oder so brauche ich die Nährstoffe. Vorsichtshalber nehme ich genug Geld für ein Taxi mit…
Ich will gerade zum Start, bin schon auf der Straße, da rumort der Bauch erneut. Ich lasse mein Rad einach stehen, laufe schnell zurück ins Hotel und hoffe, dass es das für einige Stunden war. Sonst fühle ich mich eigentlich ok.
Zu meiner Überraschung sind diesmal die Startblöcke nicht nach geplanter Durchschnittsgeschwindigkeit eingeteilt. Da ich den Umständen geschuldet sehr spät am Start bin, muss ich mich entweder an Position 2300 anstellen oder einfach auf dem Bürgersteig nach vorne marschieren und dann von neben rein. Sowas kann ich eigentlich nicht leiden, aber ich will einen 25er Schnitt fahren und möchte auch da ungefähr stehen. Aber es ist noch genügend Platz, also wohl noch ok. Die Musik am Start ist im Gegensatz zu 2011 grausam. Apresskischlager allerunterste Schublade, hoffentlich geht es bald los.

 

Am Start spricht mich ein hinter mir stehender Fahrer an, der meinen Namen auf der Startnummer gelesen hat. Er meint ich würde ihn wohl nicht kennen, aber er würde schon lange mein Blog verfolgen. Geil, nochmal ein Stimmungsaufheller zum Start. Wir wünschen uns Glück zum Start, und ich hoffe bei ihm ist es besser gelaufen als bei mir…
Dann aber Startschuss und los geht’s. Da einige Fahrer mit offensichtlich anderen Zielen vor mir stehen, braucht es etwas bis ich mich in dem Teil des Feldes befinde , der meinem gewünschten Tempo entspricht. Die Spitzengruppe ist da schon nicht mehr zu sehen. Und die Verfolgergruppe auch nicht.
Es geht gleich etwas bergauf in Richtung Innertkirchen, ich funktioniere eigentlich ganz gut. Hatte es mir schlimmer vorgestellt. Trete so um 260 Watt, mein angestrebtes Ziel für den Grimselpass. Damit sollte ich unter zwei Stunden oben sein. Aber vielleicht ist das auch völlig unrealistisch mal sehen.
Die kleine Abfahrt nach Innertkirchen läuft unspektakulär, aber nach meinem schlechten Abfahren beim Peakbreak ist das schon eine Bemerkung wert. Bis zum Abzweig Grimselpass hechele ich zwei anderen Fahrern hinterher, und kann erst kurz vorher aufschließen, Körner sparen im Windschatten sieht anders aus. Die Wattanzeige kommt mir etwas niedrig vor, ich hoffe es liegt am Garmin und nicht an meinen Beinen. Erneutes kalibrieren der Nullstelle bringt keine Veränderung.
Dann geht es in den Pass hinein. Mit anderen Worte es geht berghoch, und während die Intervalle im Flachen gestern einigermaßen funktioniert haben, funktioniert das Bergauffahren nicht. Es ist mir gar nicht möglich 260 Watt zu fahren, ich fahre eher um 200 bis 220 und es ist schwer. Dabei ist es erst mal gar nicht so steil.
Der Grimsel bietet immer wieder Gelegenheit sich etwas zu erholen oder aber Tempo aufzunehmen. An jeder „Stufe“, wenn es wieder etwas steiler wird merke ich, dass in den Beinen praktisch gar nichts drin ist. Also überhaupt nix. So schlimm hatte ich mir das, was die Beine betrifft, nicht vorgestellt. So kommt es, dass ich immer wieder überholt werde, obwohl es sich sauanstrengend anfühlt. Noch hoffe ich, dass das Wattmeter Blödsinn anzeigt. An den wenigen Flachstücken klicke ich aus, lasse die Beine hängen und gebe dem Garmin 810 Gelegenheit die Nullstelle zu kalibrieren, aber es ändert sich nichts.
Ich versuche schon zu kämpfen, aber nichts passiert. Es scheint die KH-Speicher sind schon vom Start weg leer. Eigentlich sollte ich essen, aber das geht gar nicht, ich trinke ab und zu einen Schluck Wasser, mehr ist nicht drin. Jetzt ist schon klar, mehr als Silber geht auf keinen Fall. Also die kleine Strecke mit nur drei Pässen. Wobei man dem relativ schweren Sustenpass auch da nicht entgehen kann.
Immer wieder werde ich überholt. Ich habe das Gefühl ans Ende des Feldes durchgereicht zu werden. Ich versuche die Leistung wenigstens bei 220, 230 Watt zu halten. Klappt nicht immer.

 

Der Grimselpass scheint ewig lang. In den flacheren Abschnitten schaffe ich es gerade noch irgendwie zu versuchen ein Hinterrad zu erwischen. Klappt aber nicht immer… Da mir klar ist, dass es heute nur ums Überleben geht nutze ich das Fehlen von ambitionierten Zielen um ein paar Fotos zu schießen.

 

Dann kommt das Schild mit dem Hinweis auf 750 Hm und 11 Km bis zur Passhöhe. Ich bin froh bis hierhin überhaupt gekommen zu sein und bin mir nicht sicher, dass ich oben ankomme, geschweige denn in einer halbwegs brauchbaren Zeit.

 

Die zweite Tunnelumfahrung (die erste ignorieren wir) ist zumindest sehr fotogen. Meine Leistung wird aber dadurch nicht besser. Nach der Umfahrung hat man aber immerhin Blick auf die erste Staumauer. Aber leider kenne ich den Grimsel ganz gut, so dass ich nicht der Illusion erliege es bald geschafft zu haben.
Zwischendurch hatte ich in den steileren Passagen immer mal das Trikot geöffnet zum Kühlen, aber jetzt lasse ich es zu, es ist ziemlich kalt. Und windig.
Mittlerweile hat mich wohl gefühlt jeder Starter überholt, aber es kommen immer noch weitere, und die überholen mich auch. Manche erkenne ich allerdings wieder, die muss ich dann auch wieder überholt haben. Seltsam. Aber es gibt so Phasen, da scheinen die Beine kurz mit 85% zu funktionieren, und sofort bewege ich mich im Feld massiv vorwärts. Aber das hält nicht lange an und ich muss teils sogar um die 200 Watt kämpfen. Was für ein Gegurke. Denn das fühlt sich ja auch nicht leichter an als ob man in guter Form 290 Watt tritt.
Aber irgendwie erreiche ich die erste flache Passage, bzw. geht es sogar leicht bergab, und ich habe Glück, drei Fahrer sind vor mir. Eigentlich könnte ich schneller, aber bleibe einfach nur dran, noch ist es ein langer Weg nach oben.
Die nächsten Serpentinen bieten einen tollen Blick auf den Stausee. Ich fahre so langsam, dass ich das wahrnehmen, wenn auch nicht recht genießen, kann.
Schließlich kommen wir zu den letzten Serpentinen. Es herrscht mittlerweile schon recht viel Auto- und Motorradverkehr, heute nervt mich das. Da spricht mich ein Fahrer an, und meint er würde mein Blog lesen (während er mich gefühlt mit Lichtgeschwindigkeit überholt). Schon der Zweite heute, und ich dachte immer, nur meine Mutter liest das tatsächlich…
Als ich die letzte Kehre genommen habe und auf die Verpflegungsstation zufahre überlege ich, ob es nicht klüger wäre hier oben im Wirtshaus einen Kamillentee zu trinken und dann locker wieder bergab zu rollen. Ich habe nichts gegessen und nur etwas an meinem KH-Getränk genippt.

 

Ich trinke erst mal eine Boullion, bzw. wenigstens zwei, drei Schluck. Tut ganz gut. Ich fülle die Wasserflasche etwas nach, aber ich habe kaum was getrunken. Ohne Essen und Trinken kommt man bei einem Radmarathon nicht weit, nach anderthalb bis zwei Stunden gehen dann die Lichter aus.
Ich setze mich auf mein Rad, trete den flachen Teil am See entlang ordentlich rein und stürze mich in die Abfahrt. Saukalt. Aber gut zu fahren. Auch hier fahre ich normal, hole sogar ein paar Fahrer wieder ein. Das ist dieses Jahr natürlich ungewöhnlich. Vielleicht sind die guten Abfahrer eben vorne und alle schon weg. Dabei habe ich mich mit meinen 2:06 h bis zur Grimselpasshöhe noch halbwegs brauchbar geschlagen.

 

Die Abfahrt macht aus mir einen Eisblock. Die Hände sind taub, die Beine fühlen sich seltsam an, mein Kopf ist kalt. Am Abzweig biege ich auf die Silberstrecke, also zum Furkapass ab. Da geht es gleich wieder berghoch und ich könnte wieder warm werden. Außerdem habe ich keine Chance die Platinstrecke zu fahren, am Nufenen würde es nicht besser werden und dann schaffe ich das Zeitlimit nicht. Über die Goldstrecke mit dem Gothardt will ich auf keinen Fall, das Gerüttel würde meinem Magen-Darm Trakt sicher nicht gut tun.
Also geht es den Furka hinauf. Den sollte ich normal in ca. 50 Minuten fahren. Aber heute bestimmt nicht. Vor allem merke ich gerade, dass ich mittlerweile nicht mal mehr die Leistung vom Grimsel halten kann. Ich kann nicht über 200 Watt fahren. Kurzzeitig denke ich ich habe einen Platten, aber ich bin wohl selbst so mit dem Fahrrad rumgeeiert.

 

Die Leistung sinkt und sinkt. Auf den Anfangs recht langen eher geraden Stücken komme ich kaum voran. Der Leistungsmesser muss total spinnen. 170 Watt, und um die muss ich kämpfen. Immer wieder fahren vereinzelt andere Fahrer vorbei, aber ich kann mich nicht mal dranhängen. No way. Dann fangen beide Knie an zu schmerzen, so im Bereich der Patellasehne. Offensichtlich mochten die die Kälte nicht.

 

Ich ignoriere das und irgendwie Gurke ich bis zum Ende der langen Geraden und biege in die erste Serpentine hinauf zum Belvedere ein. Ich fahre um 150 Watt. Das ist nur noch Rekombereich. Man, das ist nur der Furka. Der ist nicht so lange, aber mit 150 Watt? Vor allem hat der durchaus steile Stellen.
Und die Leistung sinkt weiter ich trete nur noch 130 Watt. Verdammt ich bleibe stehen. Ich bin platt, am Ende. Diesen Pass will ich aber noch irgendwie hochkommen, auf den Susten muss ich mit dem Taxi fahren.

 

Ich sehne die Verpflegungsstation herbei, aber die ist ja erst unten in Andermatt, ich muss erst mal überhaupt hier hochkommen. Ich trinke tapfer mein KH-Getränk und hoffe, dass es gut geht.
Mit 150 Watt quäle ich mich den Furka hoch. Endlos ziehen sich die Strecken zwischen den Serpentinen, dann noch zwei bis zum Belvedere und dem Zugang zum Rhonegletscher. Ich krieche dahin. Ja, das ist Krieg gegen den Körper. Das Bild war völlig richtig.

 

Dann endlich das Belvedere, aber auch danach geht es noch weiter. Kaum noch Serpentinen, aber bis zur Passhöhe dauert es noch. Auf einer der Geraden überholt mich ein (weiterer) Radfahrer. Er sieht die Trinkflasche vom diesjährigen Ötzi und fragt wie sich meine Beine nach dem Ötzi anfühlen, seine würde er noch ganz schön spüren. Ich erzähle ihm, dass ich wegen Krankheit nicht starten konnte und auch immer noch krank sei. Er reagiert recht besorgt und meint ich solle langsam machen.
Langsam machen! Ich krieche mit knapp 150, manchmal nur 130 Watt dahin, die anderen Fahrer ziehen reihenweise vorbei, einfach so. Ich stehe förmlich.

 

Aber ich komme oben an. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe die Passhöhe erreicht. Sofort geht es in die Abfahrt. Die ist erstaunlich holprig, dass hatte ich gar nicht mehr so in Erinnerung. Aber immerhin muss ich nicht viel treten. Eine Chance sich etwas zu erholen. Ich sehne die Verpflegungsstation herbei. Sehr sogar. Dort werde ich rücksichtslos essen.
Im flacheren Teil der Abfahrt habe ich Glück, bzw. oben ein paar Fahrer überholt, so dass sich eine Dreiergruppe bildet. Ich führe und gebe was ich habe, das Arbeiten für die Gruppe lockt nochmal 220 Watt aus den Beinen. Aber nicht sehr lange. Dann haben wir Andermatt und die Verpflegungsstation erreicht. Die brauche ich wirklich. Wie ich aber den Sustenpass hochkommen soll, keine Ahnung. Wahrscheinlich geht es gar nicht.

 

Ich esse Orangen in Mengen, etwas Brot und Käse, trinke ein bisschen Boullion, esse sogar etwas Schokolade und noch so ein süßes „Stückchen“.
Jetzt kommt ein zeitlich neutralisierter Abschnitt durch die Schöllenen Schlucht nach Wassen. Ich beschließe das zu nutzen und in Wassen ein Restaurant aufzusuchen. Toilette, Kamillentee, etwas ruhen.
Durch die Schöllenen Schlucht habe ich Glück mit dem Verkehr. Um die Uhrzeit fahren die meisten wohl in die andere Richtung, so kann ich recht frei fahren. Ist aber ja eh egal, da die Zeit nicht gewertet wird. Intern auf meinem Radcomputer läuft die Zeit natürlich weiter.
Ich fühle mich etwas besser. In Wassen angekommen geht es links in den Susten und über die Zeitmessmatte. Ich zögere etwas und biege dann doch direkt in den Pass ein. Also nix mit Restaurant, Pause und Kamillentee. Die Beine fühlen sich gerade wieder halbwegs vernünftig an, das will ich nutzen. Setze ich mich eben im Susten irgendwo hin, ein Restaurant wird es dort schon geben.

 

Am Beginn des Anstiegs überhole ich einen Fahrer, rufe ihm zu, „nur noch eine kleine Bodenwelle und dann haben wir es geschafft“. Natürlich weiß ich wie weit das von der Realität entfernt ist. Aber wie weit das für mich heute von der Realität entfernt ist, kann ich da noch nicht ahnen.
Zu meiner Freude kann ich anfangs mit gut 200 Watt fahren. Ich scheine mich etwas erholt zu haben. In den Lawinengallerien kommt natürlich immer pünktlich eine Horde Motorradfahrer, die sind extrem laut. Auch eine Corvette zerreißt mir fast das Trommelfell. Nervig. Aber noch fahre ich knapp 200, eher 190 Watt.
Aber das ist schnell vorbei. Die Leistung sinkt und sinkt. Und eine ganze Zeit lang gurke ich mit gerade so 150 Watt dahin. Natürlich werde ich überholt. So langsam bewege ich mich wohl an den Schluss des Feldes. Die anderen überholen nicht, sondern fahren einfach vorbei. Kein Gedanke an ein Duell, keine Chance sich dranzuhängen, ich versuche einfach nur auf dem Rad zu bleiben. Mir ist nicht schlecht oder so, es zwickt etwas im Bauch, aber das kann ich ignorieren, ich bekomme nur einfach überhaupt keine Leistung mehr aus den Beinen es ist als ob ich permanent in einem Hungerast fahren würde. (was ich wahrscheinlich auch tue)
Die Leistung sinkt weiter 130 Watt, 120 Watt. Das fährt ein Herzkranker bei der Untersuchung auf dem Ergometer. Ich steige ab. Setze mich an den Straßenrand und esse ein Gel.

 

Dann geht es weiter mit 170 Watt, die sich schnell wieder auf 150 Watt einpendeln. Ich wusste, dass es ein harter Kampf wird, aber dass die Leistung so in den Keller geht hielt ich nicht für möglich. Ich bin wohl selbst auf den ersten Anstiegen der Skandi-Tour 2007 um Lichtjahre besser berghoch gefahren. Fahren ist eh das falsche Wort. Aber noch bewege ich mich immerhin geradeaus.
Der Anstieg von Wassen ist lange, sehr lange. Und der Susten zeigt dir wie lange. Anfangs gibt es nicht nur keine Serpentinen, sondern auch nur leichte Kurven, so dass man kilometerweit den vor einem liegenden Anstieg sehen kann. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung wie ich da hoch kommen soll.
Ich kann die 150 Watt nicht mehr halten, 130 Watt, 120 Watt, ich muss anhalten. Setze mich nochmal einen Moment hin. Dabei kann ich sogar das Panorama genießen. Natürlich zieht Radfahrer um Radfahrer an mir vorbei. Wenn ich durchkomme werde ich vielleicht Letzter.

 

Ich steige wieder auf’s Rad. Mein mentales Ziel ist das Sustenbrüggli, ein Biker Restaurant mit Toilette und Kamillentee. In der Pause habe ich fast die halbe Flasche ISO-Getränk weggehauen. Aber es hilft nicht viel. Wieder kann ich anfangs gut 160 Watt treten, dann eine Zeit lang 150 und dann wird es schwerer und schwerer. Ich kämpfe gegen die 130, aber lange kann ich es nicht verhindern und es ist wieder soweit. Ich muss stehen bleiben, zum dritten mal. Mittlerweile überholen mich Leute, die sicher nicht in die Kategorie Bergfahrer fallen.
Und wieder auf’s Rad, es fällt jedesmal schwerer, der Susten ist noch unendlich lang.
Ich bin gar nicht so erschöpft. Klingt seltsam. Aber Mein Puls schlägt locker so bei 145, mein cardiopulmonares System scheint unterfordert. Aber ich kann keine Leistung treten. Mit Trittfrequenzen teils deutlich unter 60 gurke ich bei knapp 150 Watt dahin. Mittlerweile ist es schon recht warm, die Sonne knallt. Aber noch im Rahmen, besser als die Kälte in der Abfahrt nach Gletsch.
Ich fahre an einem Cafe vorbei, jedesmal wenn ich den Susten bis jetzt gefahren bin, egal ob hoch oder runter hatte ich Lust dort zu halten und einen Milchcafe zu trinken. Heute vielleicht einen Kamillentee? Und Toiletten gibt es hier bestimmt auch. Aber ich fahre vorbei, gerade „läuft es so gut“, ich trete immerhin die 150 Watt. Ich werde bis zum nächsten Gasthaus fahren, nach der Kurve kommt doch eine kleine Siedlung?

 

Denkste, es kommen nur vereinzelte Häuser, keine Gastronomie. Und bis zur nächsten Rechtskurve nach der ich den ersten Blick auf das Sustenbrüggli erhoffe scheint es unendlich lange zu sein. Wieder muss ich stehen bleiben. Ich leere fast die komplette Flasche mit Wasser. Jetzt wird es auch noch knapp mit Getränken.
Aufsteigen, weiterfahren, was man so fahren nennt. Ich gebe wohl ein erbärmliches Bild ab. Immer wieder zieht mal ein anderer Radfahrer vorbei. Die meisten überholen mich jetzt aber in meinen Pausen. Manche sind also tatsächlich nur wenig schneller als ich. Komisch. Ich höre ein quitschen hinter mir, gerade als ich wieder weiterfahre. Die Naben eines anderen Fahrers quitschen, habe ich ja noch nie gehört, aber gleich zieht er vorbei, dann kann ich mir das mal anschauen.
Er zieht aber gar nicht vorbei. Er hängt sich an mich dran?! Das gibt es doch nicht. Ich krieche hier jämmerlich den Berg hoch und ein anderer Fahrer hängt sich an mich dran. Was will der denn, sich an meinem Anblick weiden, macht der sich lustig über mich? Normalerweise würde ich jetzt versuchen mehr Druck zu machen, nochmal das Letzte aus mir herausholen, versuchen ihn loszuwerden. Oder ich würde ein bisschen mit ihm quatschen und versuchen das Leid zu teilen. Aber heute ist beides weit weg meiner Möglichkeiten. Ich leide vor mich hin und fühle mich etwas vorgeführt, würde ihn am liebsten anbrüllen „man fahr endlich vorbei!“.
Aber ich lasse es. Meine Leistung sinkt wieder auf 130 Watt. Ich versuche die nächste Pause so lange wie möglich hinauszuzögern. Und langsam überholt er mich. Endlich. Kurze Zeit später muss ich nochmal stehenbleiben.
Ich kann mittlerweile tatsächlich die echte Kurve mit dem kleinen Parkplatz sehen, nach der man schon das Sustenbrüggli erahnen kann. Toilette und Kamillentee, außerdem muss ich meine Flaschen mit irgendwas auffüllen.
Aber die Strecke bis zur Kurve zieht sich noch gewaltig. Man kann aber schon die Schlussserpentinen sehen. Ich weiß zwar nicht wie ich mit dieser Leistung noch bis dahin kommen soll, aber trotzdem motiviert es etwas. Allerdings kann ich diese Motivation nicht umsetzen. Die Beine haben nichts aber auch überhaupt gar nichts drin.
Immer wieder das gleiche Prinzip. Losfahren, kurz 160 vielleicht sogar mal 170 Watt, dann schnell knapp 150. Möglichst lange halten, dann 130, noch ein bisschen halten, dann 120 und stehenbleiben. Mittlerweile weiß ich nicht mehr wie oft sich schon pausieren musste.
Und dann endlich, das Sustenbrüggli. Meine Freude hält sich in trotzdem in Grenzen, ich sehe mich noch nicht wirklich auf der Sustenpasshöhe ankommen. Jetzt erst mal auf die Toilette. Den Plan hier eine Pause einzulegen verwerfe ich aber schnell. Auch das mit dem Kamillentee. Ich nehme stattdessen eine Apfelschorle für 5 Franken, trinke einen Schluck und fülle den Rest in die Trinkflasche.
Die ersten Meter auf dem jetzt folgenden, wiederum sehr langen, geraden Stück gehen ganz brauchbar. Ich überhole!!! wieder ein paar Fahrer. Aber wie gesagt bis zur ersten Serpentine zieht es sich lange und schnell ist es vorbei mit meinen spektakulären 180 Watt. Als ich wieder bei knapp 150 angelangt bin versuche ich aber das Stehenbleiben so lange zu vermeiden wie es nur irgendwie geht. Ich würde gerne bis zur Serpentine kommen. Ganz klappt das aber nicht.

 

Dann endlich, die zwei Schlussserpentinen. Mittlerweile ist es recht kühl und der Wind hat mir auf der Geraden entgegengeblasen. Nun, nach der Serpentine habe ich Rückenwind. Den brauche ich auch, sonst komme ich nicht mehr vorwärts. Am Straßenrand steht ein älterer Mann und feuert mich spontan an. Tut gut.

 

Mittlerweile spüre ich meinen rechten Oberschenkel. So ein latentes Ziehen will sich bermerkbar machen. Erstaunlich, dass ich bis jetzt überhaupt keine muskulären Probleme hatte. Eigentlich unfassbar. Hoffentlich verstärkt sich das mit dem Ziehen nicht. Noch bin ich nicht oben.
Irgendwie schleppe ich mich bis zur nächsten Serpetine. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Es ist nicht mehr weit und ich bin oben. Aber meine Beine laufen immer wieder leer. Da gibt es auch nichts dagegenzuhalten.

 

Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Das es Quälerei wird wusste ich, aber ich dachte mir ist vielleicht schlecht, oder ich habe Krämpfe, und ich müsste draufhalten und würde mit 200 bis 220 Watt den Berg hochgurken, schweißüberströmt, blass, mit Schmerzen in den Beinen. Aber nein, meine Beine geben einfach nicht mehr Leistung her als 150 Watt, dann sinkt die Kurve bis hinunter zu 120 und ich muss stehenbleiben, ohne dass ich irgendwie kämpfen kann. In den Beinen gehen einfach die Lichter aus, komplett.
Dreimal musste ich seit dem Sustenbrüggli stehen bleiben. Ein großer Schluck von der eiskalten, herrlich übersüßten Apfelschorle und weiter gings, irgendwie jedenfalls. Noch 1500 Meter bis zum Passhöhentunnel. Und jetzt gehen mir komplett die Lichter aus. Ich steige vom Rad.
Die Beine wollen krampfen, alle beide. Das Ziel scheint noch unendlich weit weg. Ich komme nicht mehr vorwärts. Am Straßenrand ist eine gemauerte Rinne, ich lege mich dort hinein, auf den Rücken und entspanne mich. Ich schaue den wenigen Wolken zu, die am Himmel entlang ziehen. Was für ein schönes Bild. Andere Radfahrer fahren vorbei, fragen mich besorgt ob alles ok ist. Ja, alles ok, mir geht es gut. Meine Beine können einfach nicht mehr treten. Es kommt keine Leistung raus.
Ich bin sicher leicht dehydriert und mit wenig gefüllten KH-Speichern an den Start gegangen. Nach dem Grimsel waren die KH-Speicher leer. Trinken konnte ich, aber essen ging nicht. D.h. mein Wasserdefizit sollte sehr gering sein, kein Grund zur Sorge also, aber meine KH-Speicher sind leer. Drei Gels habe ich im Verlauf der vielen Pausen am Susten zu mir nehmen können, zumindest teilweise. Aber jetzt muss ich einfach hier liegen. Wieder fahren andere Fahrer vorbei, ja alles ok, danke der Nachfrage.
Ich weiß nicht wie lange ich schon den Blick auf die Wolken genieße. Aber ich beschließe jetzt weiterzufahren. Ich wollte mich von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation kämpfen, die nächste ist direkt hinter dem Tunnel, noch anderthalb Kilometer. Kämpfen.
Ich steige auf’s Rad, 150 Watt, fahren. Die nächsten 500 Meter gehen. Das Schild, noch 1000m bis zur Verpflegungsstation. Ich fahre weiter. 130 bis 150 Watt, weiterfahren. Ich bin langsam, werde plötzlich schneller. Ich überhole ein paar Fahrer. Hinter dem Tunnel ist die Verpflegungsstation. Orangen, ich will Orangen essen. Leuchtend organge Orangen. Ich kann schon den Geschmack im Mund spüren. Noch geht es berghoch, ein Kilometer kann lang sein, aber dann die letzte Rechtskurve, da ist der Tunnel.
Ich überhole einen Fahrer, hinter mir im Tunnel stößt er einen Freudenschrei aus. Ich kann kein Geräusch machen, nicht, weil ich die Kraft nicht habe, was wohl auch zutrifft, sondern weil ich so leer bin wie meine Beine. Orangen, ich brauche Orangen.
Im Tunnel geht es leicht bergab, zum Glück. Kalter Wind bläst entgegen, ich friere etwas. Ich bin tatsächlich den Susten hochgekommen. Irgendwie. Ob ich es wohl bis ins Ziel schaffe?
An der Labstation fülle ich eine Flasche mit Iso, eine mit Wasser. Dann esse ich Orangen. Bestimmt sieben oder acht Schnitten. Ich trinke noch eine Cola, ziehe mir heute erstmals die Jacke an und begebe mich in die Abfahrt.
Ich fahre ganz brauchbar bergab, ein oder zwei überholen mich, einige Fahrer kann ich überholen. Meist fahre ich, abgesehen vom motorisierten Verkehr, alleine. Die Abfahrt macht sogar Spaß. Ich bin ja eigentlich gar nicht so erschöpft, so dass ich das genießen kann, es sind nur die Beine die keine Leistung bringen und in der Abfahrt müssen sie selten treten.

 

Erst fast ganz unten ziehe ich die Jacke wieder aus. Die anderen Fahrer die mir begegnen ignoriere ich, Gruppe, Windschatten, ist mir egal. Die Schranke in Innertkirchen ist auf, die Beine haben sich etwas erholt. Ich überhole im Flachen einen Fahrer, er bleibt nicht dran.
Dann der letzte Gegenanstieg, vorbei an der Aares Schlucht. Meine Beine treten 220 Watt. Sensationell. Ich überhole noch einen Fahrer, im Anstieg!!
Letzte Serpentine, die Oberschenkel ziehen ganz leicht. Hoffentlich schaffe ich es bis oben hin. Klappt aber. Dann die Abfahrt hinunter nach Meiringen. Hundert Meter vor mir fährt noch einer, zwischen uns ein offizielles Begleitmotorrad. Noch zwei Kurven, dann fahren wir die Dorfstraße entlang, geradewegs auf das Ziel zu.
Es blitzt, das Zielfoto, das Ziel ist erreicht. Ich bin tatsächlich angekommen. Die Zeit ist unterirdisch, die hätte ich auf der Goldstrecke fahren sollen. Mein Garmin zeigt über siebeneinhalb Stunden (inkl. des neutralisierten Abschnitts Andermatt-Wassen). Ich glaube meinen letzten Platz habe ich in der Abfahrt noch „verloren“.
Ich hätte Bock auf Cola, aber es gibt keine. Egal, das Zielbuffet ist mit Iso und Riegeln bestückt. Und es gibt Nudeln und Boullion. Ich nehme einen halben Becher und esse eine halbe Portion Nudeln.
Fühlt sich das jetzt besser an, als beim Ötzi wo ich als Zuschauer den Zieleinlauf betrachtet habe und mir vor Wut über die verpasste Teilnahme fast die Tränen in die Augen geschossen sind? Ich bin ja nur die Silberrunde gefahren und das in unterirdischer Zeit. Aber ja, das ist besser. Irgendwie.
Jetzt muss ich erst mal unter die Dusche. Ich bin überhaupt nicht so fertig wie man nach einem Radmarathon sein sollte. Völlig seltsam. Ich konnte also überhaupt nicht an meine Leistungsgrenze gehen weil die Beine es einfach nicht zugelassen haben. Und doch war der Susten elend zu fahren und der Furka auch.
Die Saison ist für mich beendet. So kann ich unmöglich am Nürburgring starten. Pech. Die komplette zweite Saisonhälfte dahin. Egal jetzt. Alpenbrevet silber gefinished. Irgendwie halt.

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2 Kommentare

  1. Anonymous 1. September 2013

    Masochismus pur! Mich wundert fast, dass Du Deinen gequälten, sich verzweifelt wehrenden Körper nicht auch noch auf dem Nürburgring bekämpfen willst. Komm bloß nicht noch auf andere Gedanken…

    Mark

  2. Guido 1. September 2013

    Hm, heute als ich nach Hause gekommen bin lag die Einfahrtgenehmigung für die Parzelle bei Rad am Ring im Briefkasten… aber nee, morgen früh geht es zum Arzt, und dann ist erst mal Pause bis Oktober. Mindestens zwei Wochen komplett ohne Rad.

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